Human Factors & Usability Engineering für Medizinprodukte
Human Factors & Usability Engineering für Medizinprodukte
„Mit Usability und User Interface Evaluationen zu nutzerzentrierten Medizinprodukten.“

- Dr.-Ing. Benedikt Janny
- 27.07.2022
Seit der Einführung der Medical Device Regulation (MDR) rückt die Untersuchung der Gebrauchstauglichkeit (Usability) für Hersteller von Medizinprodukten in den Fokus. Im Herzen des sogenannten Human Factors beziehungsweise Usability Engineering Prozesses stehen User Interface Evaluationen medizinischer Produkte mit medizinischem Fachpersonal.
Der medizinische Fortschritt und die Innovationskraft von Medizintechnikentwicklern führen zu einer stetigen Zunahme der Interaktionsvorgänge zwischen Menschen und technischen, stationären sowie ambulanten Systemen; sowohl aus der Perspektive des medizinischen Anwenders als auch aus der Sicht des behandelten Patienten. Dabei ist der Patient meist nicht Anwender des Gerätes, wodurch Medizingeräte in der Regel über zwei Schnittstellen zum Menschen verfügen. Diese Wirkbeziehung stellt das Mensch-Maschine-System dar, in dem die Systemelemente Patient, Arzt (respektive Pflegekraft) und Maschine über Interaktionen miteinander in Beziehung stehen.

Bedingt durch den steigenden Einsatz innovativer, technischer Systeme ergeben sich neue Anforderungen aus Sicht der Benutzer in Bezug auf eine sichere, effektive, effiziente und zufriedenstellende Bedienung von Medizintechnik. Die Erhebung, Umsetzung und Validierung dieser sogenannten Nutzungsanforderungen stehen neben der Gestaltung der Benutzungsschnittstellen (User Interfaces) und deren Evaluation im Fokus des „Usability Engineering Process“. Bei der Entwicklung von Medizinprodukten ist neben diesen aus dem „User Centered Design“ bekannten Bausteinen, das Risikomanagement von nutzungsbedingten Risiken (Use-related Risk Assessment) ein wesentlicher Aspekt.
Regulatorische und normative Vorgaben des Usability Engineering Prozess
Die Festlegung und Umsetzung eines Usability Engineering Process sowie die Dokumentation aller Aktivitäten in einem Human Factors oder Usability Engineering File sind Teil der regulatorischen Vorgaben an die Hersteller von Medizinprodukten im Rahmen der Medizinproduktezulassung. Die normativen Referenzen zum Usability Engineering bilden aus deutscher Perspektive DIN EN 62366-1:2021 sowie IEC/TR 62366-2:2016. Die amerikanische Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimitelbehörde (FDA) erhebt zum Teil weitere regulatorische Anforderungen und stellt diese in ihrem Richtliniendokument FDA-2011-D-0469 (Applying Human Factors and Usability Engineering to Medical Devices) dar. Für China und UK gelten weitere Vorgaben.
Von der Use Specification über das User Requirements Engineering zur Nutzungsrisikoanalyse
Die Spezifikation der Anwendung (Use Specification) stellt den Ausgangspunkt des Usability Engineering Prozesses dar. Diese umfasst unter anderen die vorgesehene medizinische Indikation, die Spezifikation von Benutzergruppen (User Profile) sowie die Spezifikation aller relevanten Nutzungsumgebungen. Die Spezifikation der Anwendung (Use Specification) nimmt bereits Einfluss auf die später durchzuführenden Evaluationsaktivitäten bspw. bei der Auswahl repräsentativer Testeilnehmer oder Testumgebungen für die summative Usability Evaluation. Die Identifikation von Aufgaben und Erfordernissen der Benutzer in empirischen Untersuchungen des Nutzungskontextes (User Research & Workflow-Analysen), bilden die Brücken zu den nachgelagerten Schritten des Nutzungsrisiko- (Use-related Risk Assessment) und Nutzungsanforderungsmanagements (User Requirements Engineering). Im Risikomanagementprozess werden auf Basis der Aufgabenmodelle nutzungsbezogene Risiken analysiert und bewertet. Im Anforderungsmanagement werden aus den Erfordernissen die für die Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle (User Interfaces) erforderlichen Nutzungsanforderungen abgeleitet.
WUSSTEN SIE SCHON?
„Risiko- und Anforderungsmanagementprozesse stellen die kollaborativen Prozesse des Usability Engineerings dar. Wenn hier eine enge Verzahnung gelingt, können viele Synergieeffekte für den Medizinprodukteentwicklungsprozess erreicht werden. Sie möchten Ihren Ihren Medizinprodukteentwicklungsprozess nutzerzentriert ausrichten? Unsere erfahrenen Experten unterstützen Sie gerne dabei.“
User Interface Design
Die anschließenden Phasen der Gestaltung und Evaluation fußen auf den Risiko- und Anforderungsbetrachtungen. In der User Interface Design Phase werden sämtliche Mensch-Produkt-Schnittstellen (User Interfaces) im Rahmen der User Interface Specification spezifiziert und mittels Prototyping-Verfahren gestaltet. Je nach Eigenart des zu entwickelnden Medizinproduktes können verschiedene Prototyping-Verfahren eingesetzt werden. So bieten sich etwa 3D-Druck- und Laser Cutting-Verfahren Die Absicherung der Gebrauchstauglichkeit (Usability) der erarbeiteten User Interface Prototypen erfolgt unter dem gezielten Einsatz von Usability Evaluationsmethoden.
User Interface / Usability Evaluationen
Usability Evaluationen bilden das Herzstück des Usability Engineering Prozesses und müssen frühzeitig zu Beginn geplant werden. Hierbei sind der Umfang, die Art und der Zeitpunkt der Evaluationsmethoden je nach Komplexitätsgrad an das zu bewertende Medizinprodukt anzupassen, um nicht nur die regulatorische Pflicht der sicheren und effektiven Handhabung nachzuweisen, sondern zudem den eigentlichen Mehrwert, die angestrebte Optimierung der Mensch-Produkt-Interaktion, zu ermöglichen. Usability Evaluationsmethoden können unterteilt werden in Inspektions- und Nutzertestmethoden.
Inspektionsmethoden werden von Usability Professionals durchgeführt und beziehen sich zumeist auf eine Überprüfung der Einhaltung von Heuristiken oder Gestaltungsrichtlinien. Hierbei überprüfen erfahrener Experte die Benutzungsschnittstellen des Medizinprodukts auf Übereinstimmung oder Abweichung mit bestehenden und anerkannten Vorgaben. Im Kontext der Medizinprodukteentwicklung wird auch das Durchdenken von Bedienabläufen (Cognitive Walkthrough) als Inspektionsmethode eingesetzt.
Im Gegensatz dazu verfolgt die zweite Methodengruppe, die Gruppe der Nutzertestmethoden, ein empirisches, nutzerbasiertes Vorgehen. Hierzu ist es notwendig, den Nutzungskontext im Usability Labor ausreichend zu simulieren und Beobachtungen von und Befragungen mit für das jeweilige Medizinprodukt repräsentativen Anwendern (User) durchzuführen. Die als Goldstandard geltende Testmethode ist der Usability Test, eine mit Anwendern durchgeführte Überprüfung der Gebrauchstauglichkeit (Usability) anhand simulierter Aufgabenszenarien (Test Cases), üblicherweise mitels teilnehmender Beobachtung.

Im Usability Engineering Prozess für Medizinprodukte werden in den normativen Referenzen Methoden aus beiden Methodengruppen beschrieben. Da Inspektionsmethoden mit weniger Durchführungsaufwand verbunden sind, werden sie für frühe Phasen empfohlen, in denen die Benutzungsschnittstelle noch nicht ausreichend konkretisiert ist für einen Usability Test. Wann welche Methode zum Einsatz kommt, muss im User Interface Evaluation Plan zu Beginn der Gestaltungsaktivitäten festgelegt werden. Entscheidend sind die frühzeitige Planung und methodisch korrekte Durchführung der Evaluationen.
WUSSTEN SIE SCHON?
„Für Usability Tests gibt es zahlreiche methodische Aspekte, die variiert werden können (z. B. remote-inhouse / synchron-asynchron), so dass es im Prinzip „den Standard Usability Test“ nicht gibt, sondern eine individuelle Testplanung in Abhängigkeit der Spezifika des zu testenden Medizinproduktes erfolgen muss. Sie stehen vor der Herausforderung der Planung eines medizintechnischen Usability Tests? Unsere erfahrenen Experten unterstützen Sie gerne dabei.“
Werden Evaluationen entwicklungsbegleitend durchgeführt, spricht man von formativen Evaluationen. Hierbei liegt der Fokus auf der Identifikation von Optimierungspotentialen der Mensch-Medizinprodukt-Interaktion und deren designtechnische Rückspiegelung in den Entwicklungsprozess. Die normativen Referenzen empfehlen die Durchführung mehrerer formativer Evaluationen. Je nach Komplexitäts-, Neuheitsgrad und Risikoprofil der Benutzungsschnittstelle werden zwei bis drei formative Evaluationen angeraten.
Am Ende des Medizinprodukteentwicklungsprozesses sind Hersteller verpflichtet, die sichere und effektive Nutzung ihres Medizinproduktes nachzuweisen. Dies erfolgt im Rahmen der summativen Usability Validierung oder Evaluation. Die summative Evaluation beinhaltet eine normativ festgelegte Art der Planung (Evaluation Plan) und Dokumentation (Evaluation Report).
Fazit
Der medizintechnische Human Factors & Usability Engineering dient sowohl der Erfüllung regulatorischer Anforderungen als auch der Identifikation marktdifferenzierender Optimierungspotentiale. Diesbezüglich ist die Verzahnung der Usability Evaluationen mit der Spezifikation der Anwendung (Use Specification), dem Risikomanagement (Use-related Risk Assessment) und dem Anforderungsmanagement (User Requirements Engineering) von höchster Bedeutung und sollte interdisziplinär im gesamten Entwicklungsteam verankert werden, um maximal davon zu profitieren.
Sie benötigen Unterstützung bei der Umsetzung Ihrer medizintechnischen Usability Aktivitäten? Unsere USE-Ing. Experten stehen für Sie bereit.