April 2025
Dieser Artikel beleuchtet, wie sich der medizintechnische Usability-Engineering-Aufwand situationsgerecht anpassen lässt, ohne dabei die regulatorischen Anforderungen aus dem Blick zu verlieren. Der internationale Standard IEC 62366-1:2015 spezifiziert Anforderungen für den Usability-Engineering-Prozess im Rahmen der Entwicklung von Medizinprodukten. Er fokussiert sich auf die Reduktion von Anwendungsfehlern (Use Errors), die durch unzureichende Gebrauchstauglichkeit (Usability) entstehen können, und somit letztendlich ein Risiko für Patienten, Anwender oder Dritte darstellen. Dabei ist die Norm bewusst prozessorientiert aufgebaut, um unterschiedlichen Gerätetypen, Risikoniveaus und Entwicklungsumfängen gerecht zu werden. Und genau deshalb bietet die Norm einen gewissen Gestaltungsspielraum, um den Umfang der Usability Engineering Aktivitäten anzupassen und auf das jeweilige Entwicklungsprojekt maßzuschneidern.
Die Anpassung des Usability Engineering Aufwands (im Englischen auch häufig „Tailoring“ genannt) ist ein integraler und notwendiger Aspekt der Anwendung der IEC 62366-1 auf Medizinprodukte. Sie ermöglicht es Herstellern, den Usability Engineering Prozess an die spezifischen Merkmale des Medizinprodukts, insbesondere seiner Benutzerschnittstelle (User Interface), und seiner vorgesehenen Nutzung anzupassen. Durch die Berücksichtigung von Faktoren wie beispielsweise der vorherrschenden Komplexität des User Interfaces oder der Schwere des potenziellen, durch die Nutzung bedingten Schadens kann ein Hersteller Argumente ableiten, um einen angepassten, effizienten und dennoch umfassend sicheren Usability Engineering Prozess zu implementieren. Wie hierbei praktisch vorzugehen ist, wird in vorliegendem Fachartikel detailliert erläutert.
Das Tailoring (Anpassen des Umfangs) dient dem Ziel, den Usability-Engineering-Prozess in Relation zur Art des Produkts, zum Risikoniveau und zum Nutzungskontext durchzuführen. Dabei sind vor allem Aktivitäten in voller Tiefe durchzuführen, die für die Identifikation und Risikominimierung potenzieller Use Errors notwendig sind. Der Aufwand für Dokumentation, Analyse und Evaluation lässt sich somit effizient skalieren, ohne auf zentrale Erkenntnisse zu verzichten.
Bei der Anpassung des Usability Engineering Aufwands ergibt sich für den Hersteller somit die Möglichkeit, gewisse Aktivitäten maßzuschneidern. Gleichzeitig bleibt der Hersteller allerdings in der Verantwortung die bestehenden Sicherheitsanforderungen im Rahmen der Medizinprodukteentwicklung sicherzustellen. Nimmt man eine solche Prozessanpassung vor, ist es also essentiell zu wissen, warum die jeweilige Anpassung möglich ist. Jede Anpassung sollte mit entsprechenden Argumenten hinterlegt und dokumentiert werden. Das übergeordnete Ziel bleibt – die Herstellung sicherer und effektiver Medizinprodukte.
In Kapitel 4.3 der IEC 62366-1:2015 nennt der Standard mehrere Faktoren, die als Begründung für eine Anpassung des Usability Engineering Prozessaufwands im Rahmen einer vorliegenden Medizinprodukteentwicklung angeführt werden können. Dabei kann sowohl das Maß an Aufwand sowie die Auswahl der Methoden und Werkzeuge, die zur Durchführung des Usability Engineering Prozesses verwendet werden, anhand der folgenden Faktoren angepasst werden:
Umfang und Komplexität der Benutzerschnittstelle (User Interface): Der Standard erwähnt, dass der Umfang und die Komplexität des User Interfaces als Argumentationsgrundlage für die Anpassung des Usability Engineering Aufwands angeführt werden können. So erfordert ein komplexeres User Interface typischerweise einen höheren Usability Engineering Aufwand, um relevante Use Errors zu identifizieren und zu mitigieren, als ein einfaches. Die Begriffe „Umfang“ und „Komplexität“ lassen sich hierbei verschiedenartig interpretieren und können unter anderem Aspekte wie Heterogenität oder Anzahl der Interaktionselemente beinhalten.
Schweregrad des Schadens, der mit dem Gebrauch des Medizinprodukts verbunden ist: Dies folgt der Argumentationsgrundlage, dass Produkte, deren Fehlbedienung zu schwerem Schaden führen kann, einen intensiveren Usability Engineering Prozess zur Risikominimierung durchlaufen sollten, als Produkte mit einem potenziell niedrigen Schadensschweregrad. Antworten liefern hier vor allem die Schweregraddefinitionen der hausinternen Risikomatrix sowie die detaillierte Analyse der hazard-related use scenarios.
Ausmaß oder Komplexität der Use Specification: Eine breite oder umfangreiche Variation an vorgesehenen Anwendungen, Nutzern oder Nutzungsumgebungen deuten auf die Notwendigkeit eines hohen Usability Engineering Prozessaufwands hin, während einfache Gebrauchsspezifikation mit nur einer Nutzergruppe und einer klar abgrenzbaren Nutzungsumgebung gegebenenfalls einen geringeren Aufwand rechtfertigen können.
Vorhandensein einer Benutzerschnittstelle unbekannter Herkunft (UOUP): Besitzt ein Medizinprodukt eine Benutzerschnittstelle unbekannter Herkunft gemäß der UOUP Definition in IEC 62366-1:2015 (Annex C) kann der dort dargelegte, deutlich reduzierte Usability Engineering Prozess angewendet werden, um die Aufwände zu reduzieren. Vereinfacht gesagt, handelt es sich bei einer UOUP um eine Benutzerschnittstelle von einem bereits entwickelten Medizinprodukt, für das keine ausreichenden Aufzeichnungen des Usability Engineering Prozesses nach der aktuellen Norm verfügbar sind. Hierbei gilt es allerdings genau hinzuschauen und die in der Norm definierten Voraussetzungen für die Anwendung des UOUP-Prozesses exakt zu prüfen, bevor man sich auf diesen Pfad begibt.
Ausmaß der Änderung an einem bestehenden User Interface eines Medizinprodukts, das dem Usability Engineering Prozess bereits unterzogen wurde: Bei geringen Modifikationen bereits gemäß Usability Engineering Prozess zugelassener Medizinprodukte kann der Usability Engineering Aufwand auf die geänderten Elemente der Benutzerschnittstelle und deren Auswirkungen auf die Nutzung des Produkts konzentriert werden. Wenn die Modifikationen die Benutzerschnittstelle und die Use Specification nicht beeinflussen, ist möglicherweise kein zusätzlicher Usability Engineering Aufwand erforderlich. Entscheidend ist hierbei oft die Frage: Führt die Modifikation zu neuen potenziellen Use Errors, die zu Risiken in einem nicht-akzeptablen Bereich führen?
Nachdem die grundlegenden Faktoren zuvor andiskutiert wurden, welche als Argumentationsgrundlage für eine Anpassung des Usability Engineering Prozesses herangezogen werden können, wird dies im Folgenden anhand von praktischen Beispielen verdeutlicht.
Da Medizinprodukte und ihre Benutzerschnittstellen (User Interfaces) in Bezug auf Komplexität, Nutzungsumgebung und potenzielle Risiken stark variieren können, ist es nicht immer notwendig oder praktikabel, den Usability Engineering Prozess in identischem Umfang für jedes Produkt anzuwenden. Die IEC 62366-1:2015 erkennt dies an und erlaubt eine Anpassung des Usability Engineering Aufwands. Die Begründung hierfür liegt in der Notwendigkeit, den Prozess flexibel zu gestalten, um ihn an die spezifischen Merkmale des Medizinprodukts und seiner beabsichtigten Nutzung anzupassen. Die regulatorische Basis liefert Kapitel 4.3 „Tailoring of the usability engineering effort“ der IEC 62366-1:2015, welche diese Anpassungsmöglichkeit explizit thematisiert.
Um die zuvor theoretisch dargelegten Faktoren praktisch zu verdeutlichen, werden im Folgenden zwei Medizinprodukte mit sehr unterschiedlichen Benutzerschnittstellen und Nutzungskontexten verglichen.
Als Beispiel für ein Medizinprodukt mit einer Benutzerschnittstelle, die einen geringen Usability Engineering Aufwand rechtfertigen könnte, wird eine Lanzette zur Blutzuckermessung herangezogen. Mögliche Argumentationsansätze könnten die folgenden Aspekte umfassen:
Die Betrachtung eines integrierten Anästhesie-Arbeitsplatzes mit Beatmung, Monitoring, Gasversorgung und Touchscreen-Steuerung könnte hingegen zum Ergebnis kommen, dass umfangreiche Usability Engineering Aktivitäten notwendig sind. Diese Erkenntnis beruht auf den folgenden Punkten:
Der kurze Vergleich dieser Medizinprodukte verdeutlicht, wie unterschiedlich die Bewertung der einzelnen Faktoren ausfallen kann. Somit ergibt sich ein entsprechender Spielraum für die Anpassung des Usability Engineering Umfangs.
Der Standard sowie der zugehörige technische Report IEC TR 62366-2:2016 deuten auf Aktivitäten des Usability Engineering Prozesses hin, die zwingend durchgeführt werden müssen, wohingegen bei anderen Aktivitäten mehr Handlungsspielraum besteht. Hierbei empfehlen wir das folgende Vorgehen.
Schritt 1: Erstelle die Entscheidungsgrundlage
Wie zu Beginn erwähnt, steht die sichere Medizinprodukteentwicklung im Fokus des Standards. Um dies zu gewährleisten sind zunächst die folgenden, wichtigen Basisaktivitäten durchzuführen:
Die konzeptionelle Beschreibung der Benutzerschnittstellen (User Interface Description) des Medizinprodukte, welche die safety-related User Interface Characteristics beinhaltet
Optimalerweise basieren diese Informationen auf umfangreichen User Research Aktivitäten sowie einer fundierten, hausinternen Datenbasis in Bezug auf Beschwerden und Reklamationen. Dies sollte durch eine ausführliche Recherche in relevanten Datenbanken ergänzt werden. Hinzu kommt die systematische Identifikation von potenziellen use errors im Rahmen der Erstellung der hazard-related use scenarios.
Schritt 2: Analysiere die Einflussfaktoren
Ist ausführliches Wissen in Form der User Interface Description, der Use Specification sowie der Nutzungsrisikoanalyse vorhanden, kann eine detaillierte Analyse der zuvor genannten Einflussfaktoren erfolgen, indem zum Beispiel die Komplexität des User Interfaces und der Use Specification sowie der anzunehmende Schadensschweregrad aufgearbeitet werden.
Schritt 3: Definiere und dokumentiere die Anzahl und den Umfang der weiteren Usability Engineering Aktivitäten
In Abhängigkeit der Vollständigkeit und Detailtiefe der Use Specification sowie der bekannten und möglichen Use Errors wird nun der Umfang der weitere Usability Engineering Aktivitäten definiert. Dies umfasst vor allem den weiteren Umfang an
Wichtig – Denken Sie an das Deliverable: Insbesondere die Festlegung der Anzahl sowie des Umfangs der durchzuführenden formativen Usability Evaluationen und die Methodik der summativen Evaluation sollten im User Interface Evaluation Plan festgehalten werden.
Die IEC 62366-1:2015 ermöglicht ein flexibles und risikobasiertes Vorgehen bei der Anwendung des Usability-Engineering-Prozesses. Dies ist sinnvoll und zugleich notwendig, um ein Optimum an Sicherheit, Aufwand und Produktqualität zu erreichen. Die Anpassung des Usability Engineering Aufwands ermöglicht es Herstellern, diesen Prozess effizient zu gestalten, indem sie den Umfang an die spezifischen Risiken und die Komplexität des Produkts anpassen. Ein strategisches Tailoring, also eine maßgeschneiderte Definition der Usability Engineering Aktivitäten, ermöglicht es, Regelkonformität und Wirtschaftlichkeit im Entwicklungsprozess in Einklang zu bringen. Nehmen Sie sich diese Zeit zu Beginn Ihres Entwicklungsprozesses, um hier für sich Klarheit zu schaffen und sich viel Aufwand und Mühe im weiteren Projektverlauf zu sparen.
Achten Sie bei der Anpassung allerdings stets auf die Stimmigkeit Ihrer Argumentation, um die Einhaltung der Anforderungen gemäß IEC 62366-1:2015 sicherzustellen. Zuletzt folgende Anmerkung: Die IEC 62366-1 konzentriert sich strikt darauf, den Usability Engineering Prozess anzuwenden, um die Gebrauchstauglichkeit von Medizinprodukten in Bezug auf die Sicherheit zu optimieren. Umfangreichere Usability Aktivitäten sind somit eventuell nicht regulatorisch vorgeschrieben und nicht notwendig, um „durchzukommen“. Allerdings führen diese darüber hinausgehenden Aktivitäten häufig zu eben den nutzerzentrierten Verbesserungen, die letztendlich die Nutzerzufriedenheit im Arbeitsalltag ausmachen und somit über den Erfolg oder Misserfolg Ihres Produktes entscheiden.
Die in diesem Fachartikel dargestellten Informationen zu Normen und Standards wurden nach bestem und fundiertem Erfahrungswissen dargelegt. Sie spiegeln hierbei rein die Meinung des Autors wider. Es kann keine Gewähr für die Vollständigkeit, Aktualität und Richtigkeit der Angaben übernommen werden. Normen unterliegen regelmäßigen Überarbeitungen und Änderungen, die hier nicht immer unmittelbar berücksichtigt werden können. Dieser Artikel stellt keine verbindliche Normberatung dar und ersetzt keine Prüfung der jeweils gültigen Normen durch qualifizierte Fachpersonen oder offizielle Stellen. Für die Anwendung der Normen und deren Auslegung sind stets die aktuell gültigen Originaldokumente sowie die zuständigen Normungsorganisationen maßgeblich.
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