Vom Nutzer lernen – Kontextinterview

Vom Nutzer lernen – Kontextinterview

„Das Kontextinterview, entspricht einer Kombination aus Beobachtung und Befragung der Nutzer.“

Das Kontextinterview, auch als kontextuelles Interview oder im Englischen Contextual Inquiry bekannt, ermöglicht es, direkt vom Nutzer des Produkts, verschiedenste Aspekte über den Nutzer selbst, die Nutzung und den Nutzungskontext zu lernen. Durch die Verbindung von Beobachtung und Befragung lassen sich Zusammenhänge und Hintergründe aufdecken, welche in den Produktentwicklungsprozess einfließen können.

Das Kontextinterview wird daher sinnvollerweise am Anfang bzw. in der Kreativphase des Produktentwicklungszykluses angesetzt. Im fünfstufigen Design-Thinking Prozess lässt sich die Methode im Rahmen der „Empathize“-Phase einsetzten, in der ein Verständnis für den Nutzer aufgebaut werden soll. In der Medizintechnik kann das Kontextinterview als User Research Methode für die Erstellung der Use Specification im Usability Engineering Prozess eingesetzt werden.

Vorbereitung des Kontextinterviews

Ein Kontextinterview sollte gut vorbereitet werden. Dazu gehört es beispielsweise geeignete Teilnehmer auszuwählen. Es empfiehlt sich hierbei jede Benutzergruppe des Produkts zu berücksichtigen.

TIPP:

„Auch Teilnehmer mit unterschiedlichem Erfahrungsschatz können verschiedene Blickwinkel auf das Produkt ermöglichen. So können beispielsweise ein relativ neuer Nutzer und ein jahrelanger, routinierter Nutzer für ein Kontextinterview aufgesucht werden. Je breiter die Teilnehmer gestreut sind, desto vielfältiger und umfassender kann die Nutzung des Produkts erfasst werden.”

Des Weiteren sollten Themenschwerpunkte und relevante Fragen vorbereitet werden, auf die in der Befragung besonders eingegangen werden soll. Für einen strukturierten Ablauf sollte ein Leitfaden erstellt werden. Dabei sollte der Interviewer die Befragung jedoch gleichzeitig flexibel an die beobachteten Aspekte anpassen und auf die individuellen Antworten des befragten Nutzers eingehen. Oftmals schärfen sich die Fragen mit jedem durchgeführten Kontextinterview, da sich das Verständnis über die relevanten Aspekte stetig erweitert.

Durchführung

Das Kontextinterview wird im Feld, also in der gewohnten Nutzungsumgebung des Nutzers, durchgeführt. Dazu wird der Nutzer im ersten Schritt bei der Interaktion beobachtet. Im zweiten Schritt erfolgt die Befragung.

Während der Beobachtung empfiehlt es sich, dass der Interviewer möglichst unauffällig im Hintergrund bleibt, um den gewohnten Workflow nicht zu beeinflussen. In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, schon während der Beobachtung vereinzelte Zwischenfragen zu stellen, jedoch sollte dabei darauf geachtet werden, dass der Nutzer nicht aus dem Konzept gebracht wird.

TIPP:

„Je weniger sich der Nutzer durch die Beobachtung gestresst fühlt und verunsichert wird, desto authentischer und repräsentativer ist die beobachtete Nutzung des Produkts.”

Um zu einem späteren Zeitpunkt eine detaillierte Analyse durchführen zu können, ist es empfehlenswert das Kontextinterview mittels einer Video- oder Audioaufnahme zu dokumentieren. Während der Befragung kann sich der Interviewer so auf das Gespräch konzentrieren und dieses flüssig und ohne Schreibunterbrechungen führen. Alternativ kann die Befragung auch durch einen Protokollanten mitprotokolliert werden. Dadurch entsteht auf der einen Seite das Risiko, dass Nuancen des Gesprächs verloren gehen, allerdings beschleunigt das Protokoll die Auswertung deutlich. Eine Kombination beider Dokumentationsarten ermöglicht es, die Auswertung an Hand des Protokolls durchzuführen und nur im Zweifelsfall auf die Video- oder Audioaufnahme zurückzugreifen, um Unsicherheiten im Protokoll zu überprüfen.

Themenfelder des Kontextinterviews

Aspekte, die beim Kontextinterview erfasst werden können, sind beispielsweise Arbeitsabläufe, die Individualisierung des Produkts und Schwierigkeiten bei der Interaktion. Auch wann und wie häufig das Produkt verwendet wird, können von hohe Relevanz sein.

Die Beobachtung des Nutzers ermöglicht es insbesondere auch implizites Wissen zu erfassen. Bei impliziten Wissen handelt es sich um Wissen, dass der Nutzer zwar in der entsprechenden Situation anwenden kann, aber ansonsten in der Theorie nicht einfach widergeben kann.

Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Schuhebinden, welches für die meisten Menschen eine alltägliche Aufgabe darstellt. Trotzdem ist die exakte Vorgehensweise für viele nur schwer zu beschreiben. Das gleiche Phänomen kann auch bei der routinierten Interaktion des Nutzers mit einem Produkt auftauchen, sodass bei einer allgemeinen Befragung das implizite Wissen nur schwer erfasst werden kann.

Die Arbeitsplatzumgebung und Einflüsse wie Lärm oder Lichtverhältnisse sowie Abhängigkeiten und die Kommunikation mit Kollegen und Vorgesetzten können ebenfalls relevante Faktoren darstellen und über das Kontextinterview erfasst werden. Auch der Einsatz von Hilfsmitteln oder die Weitergabe von Informationen oder Produkten sind oftmals sinnvolle Aspekte, die beobachtet und erfragt werden können. Müssen beispielsweise Daten in das System importiert oder exportiert werden, können Schwierigkeiten mit der Kompatibilität der Dateiformate auftauchen, die die Integration in den Gesamtworkflow des Nutzers erschweren.

Fällt dem Interviewer bei der Beobachtung zum Beispiel ungewöhnliche Interaktionen auf oder wird eine Irritation des Nutzers bemerkt, können diese im Interview direkt angesprochen werden. Besondere Verhaltensweisen können hinterfragt werden und so Zusammenhänge und Optimierungspotenziale aufgedeckt werden.

Arbeiten mit den Ergebnissen

Nach der Durchführung sollten die Protokolle bzw. Video- oder Audioaufnahmen möglichst zeitnah durch geeignete Verfahren ausgewertet werden. Die Ergebnisse können dann beispielsweise in Personas und Szenarien übertragen werden, welche zur Kommunikation der Ergebnisse für alle am Projekt Beteiligten geeignet sind.

Aufgedeckte Pain Points und Optimierungspotenziale können direkt aus der Auswertung in die Produktentwicklung weitergegeben werden.

Der Nachteile des Kontextinterviews ist der Zeitaufwand, der für die Durchführung und Auswertung benötigt wird. Jedoch eignet sich die Methode zu einer fundierten, empirischen Analyse der Nutzungsanforderungen. Besonders bei der Weiterentwicklung eines bestehenden Produkts, aber auch zur Eingliederung eines neuen Produkts ein einen bestehenden Workflow, ist diese Methode gut geeignet.

BEITRÄGE IM THEMENFELD:

Fokusgruppe

„Die Fokusgruppe ist eine kreative Diskussion zum Produkt mit einer diversen Gruppe an Nutzern.“

Die Methode lässt sich im Bereich User Research einordnen und hat das Ziel Nutzungsanforderungen und Bedürfnisse der Nutzer für ein Produkt, das entwickelt werden soll, zu erfassen. Deshalb ist es sinnvoll die Fokusgruppe während der Kreativphase, zu Beginn des Entwicklungsprozesses, durchzuführen. Im Design Thinking Prozess bedeutet das, dass die Fokusgruppe in der „Empathize“-Phase, also der ersten Phase stattfinden sollte. Im Usability Engineering Prozess in der Medizintechnik fällt die Fokusgruppe in den Bereich der Use Specification. In der Fokusgruppe werden dabei verschiedene Konzepte, frühe Prototypen und Ideen mit repräsentativen Nutzern diskutiert. Das heißt, die Teilnehmer werden so ausgewählt, dass sie die tatsächlichen Nutzer widerspiegeln. Bei der Wahl sollten dafür die demografischen Merkmale, Vorkenntnisse zur Nutzung des Produkts sowie relevante soziale und berufliche Hintergründe berücksichtigt werden.

TIPP:

„Je nach Produkt können neue Konzepte auch als Prototypen am Vorgängermodell angebaut oder dargestellt werden.“

Die Fokusgruppe ist ideal um die Bedürfnisse und Gefühle der Nutzer zu erfassen. Für die Evaluation eines Interfaces hingegen ist sie nicht geeignet, da die Gruppendynamik die Erfassung eines ehrlichen und heterogenen Meinungsbildes verhindert.

Vorbereitung der Fokusgruppen

Um eine gute Gruppendynamik zu erhalten, sollte sich die Fokusgruppe aus 5 bis 10 Teilnehmer zusammensetzen. Für die Durchführung der Fokusgruppe werden zwei Mitarbeiter benötigt. Zum einen den Leiter, der die Befragung durchführt und die Gruppendiskussion steuert und zum anderen ein Protokollant, der die Ergebnisse festhält. Das Ziel des Protokollanten ist es, die wichtigsten Eckpunkte der Diskussion, Ideen und Bedenken festzuhalten und offene Fragen für die Abschlussdiskussion zu dokumentieren. Auch prägnante Zitate oder besondere Situationen sollten vom Protokollanten erfasst werden. Um Schwierigkeiten bei der Nutzung des Produkts durch die Teilnehmer oder Ideen und Anregungen festzuhalten, sollten hiervon während der Fokusgruppe Fotos gemacht werden, die in die Auswertung integriert werden können.

Die Fokusgruppe muss detailliert vorbereitet werden. So sollten die benötigten Prototypen bzw. Veranschauungsmaterialen generiert werden. Außerdem sollten ein Ablauf und ein Leitfaden für die zu behandelten Themen erstellt werden. Für die Dauer der Fokusgruppe sollten circa zwei Stunden eingeplant werden. Innerhalb dieses Zeitraums kann die Konzentration und Motivation der Teilnehmer auf einem hohen Niveau gehalten werden.

Ablauf einer Fokusgruppen

Typischerweise beginnt die Fokusgruppe mit der Vorstellung der Fokusgruppenleitung und der Teilnehmer sowie einer kurzen Einführung in das Produkt, um das es sich in der Fokusgruppe dreht.

Bevor die Teilnehmer das Produkt bzw. die Prototypen begutachten und testen dürfen, werden sie im zweiten Schritt auf theoretischer Basis z. B. an Hand eines Fragebogens zu dem Produkt befragt. Dadurch können zunächst der erste Gesamteindruck, Erwartungen und Befürchtungen der Teilnehmer erfasst werden, bevor in der späteren Diskussion auf einzelne Details und Aspekte eingegangen wird.

Erst im dritten Schritt werden die Teilnehmer mit dem Produkt oder Prototyp konfrontiert. Die Teilnehmer sollen an Hand des Produkts oder Prototyps verschiedene Szenarien durchspielen und diskutieren. Dieser Schritt hat für gewöhnlich den größten zeitlichen Anteil der Fokusgruppe. Die Aufgabe des Leiters ist es, die Diskussion zu leiten und dabei auf die Ideen und Meinungen der Teilnehmer einzugehen.

Für die Gruppendiskussion kann auf verschiedenste Befragungstechniken zurückgegriffen werden. So können beispielsweise verschiedene Konzepte vorgestellt werden, aus denen die Teilnehmer die geeignetste auswählen oder die sie nach verschiedensten Aspekten priorisieren sollen. Die Teilnehmer Rollenspiele durchführen zu lassen oder sie dazu auffordern sich vorzustellen, wie sie das Produkt in bestimmten Situationen benutzen würden, bietet sich für diesen Schritt an.

Je nach Produkt ist für diesen Schritt ein Wechsel in einen anderen Raum sinnvoll, in dem das Produkt bzw. die Prototypen aufgebaut sind, sowie die benötigten Materialien für die Gruppendiskussion.

Im letzten Schritt mit den Teilnehmern, fassen der Fokusgruppenleiter und der Protokollant die Ergebnisse zusammen und klären noch die vom Protokollanten aufgeschriebenen, offenen Fragen. Anschließend werden die Teilnehmer verabschiedet.

Auswertung der Fokusgruppen

Es empfiehlt sich, dass sich der Fokusgruppenleiter und der Protokullant direkt nach der Fokusgruppe zusammensetzen und die Ergebnisse in einem kurzen Report widergeben. Mit Hilfe des Protokolls kann später eine detaillierte Auswertung durchgeführt werden.

TIPP:

„Eine Video- bzw. Audioaufnahme von der Fokusgruppe können bei der Auswertung sehr hilfreich sein. Dies erhöht allerdings den Arbeitsaufwand und eine Zustimmung der Teilnehmer muss zwingend eingeholt werden.”

Neben den Ergebnissen der Gruppendiskussion ist es für die Auswertung wichtig, die Gruppendynamik zu berücksichtigen. Entscheidende Aspekte hierbei sind beispielsweise, ob die Gruppe durch einen oder mehrere Teilnehmer dominiert wurde oder ob sich einzelne Teilnehmer zurückgehalten haben. Wenn Aspekte besonders intensiv oder hitzig diskutiert werden, spiegelt dies beispielsweise Relevanz oder die polarisierende Eigenschaft des Aspekts wider. Auf diese Aspekte sollte im weiteren Entwicklungsprozess ein Fokus gelegt werden.  Auffälligkeiten, wie eine spezielle Wortwahl oder häufige Wiederholungen derselben Aussage, können ebenfalls aufschlussreich sein.

Generell ermöglicht das Durchführen mehrerer Fokusgruppen ein vielseitigeres und repräsentativeres Ergebnis.

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Normen / Nachschlagewerke:

BEITRÄGE IM THEMENFELD: